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Präsentismus: Unter Präsentismus versteht man in den Wirtschaftswissenschaften die Tendenz, vergangene wirtschaftliche Ereignisse, Politiken oder Theorien ausschließlich durch die Brille des heutigen Wissens, der heutigen Werte oder Umstände zu bewerten.

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Anmerkung: Die obigen Begriffscharakterisierungen verstehen sich weder als Definitionen noch als erschöpfende Problemdarstellungen. Sie sollen lediglich den Zugang zu den unten angefügten Quellen erleichtern. - Lexikon der Argumente.

 
Autor Begriff Zusammenfassung/Zitate Quellen

Derek Parfit über Präsentismus – Lexikon der Argumente

Norgaard I 339
(Def) Präsentismus/Politische Philosophie: Der Präsentismus ist ein moralischer Rahmen, der implizit von Klimaökonomen wie Manne (1995)(1), Nordhaus (1992(2), 2008)(3) und Anthoff et al. (2009b)(4) übernommen wird. In dieser Hinsicht sollten politische Entscheidungen strikt auf den Präferenzen der gegenwärtigen Generation beruhen, ohne dass Mitgliedern künftiger Generationen eine explizite moralische Stellung eingeräumt wird. Der Knackpunkt ist, dass Präsentismus impliziert, dass das
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Gewicht, das dem Wohlergehen künftiger Generationen beigemessen wird, strikt auf dem Grad des Altruismus basieren sollte, den Menschen durch ihre privaten Entscheidungen zeigen (Arrow et al. 1996)(5). Die Befürworter des Präsentismus messen der Marktrendite von Kapitalanlagen besondere Bedeutung bei, was ihrer Meinung nach die Bereitschaft der Menschen zeigt, die gegenwärtigen wirtschaftlichen Vorteile um ihrer Kinder und Enkelkinder willen aufzugeben (Goulder und Stavins 2002)(6).

Pro Präsentismus/Nordhaus: Nordhaus (1992(7), 2008(3)) plädiert zum Beispiel seit langem für einen präsentistischen Ansatz, bei dem wesentliche Reduzierungen der Treibhausgasemissionen auf lange Sicht verschoben werden sollten. In der Analyse von Nordhaus sind die zukünftigen Vorteile der Klimastabilisierung zu gering, um angesichts des Grades an intergenerationellem Altruismus, den Menschen durch ihre privaten Entscheidungen zeigen, erhebliche kurzfristige Kosten zu rechtfertigen.
VsPräsentismus: Eine Richtung der Kritik argumentiert, dass die Marktrendite von Kapitalanlagen die Präferenzen offenbart, die Menschen in Bezug auf ihr eigenes gegenwärtiges und zukünftiges Wohlergehen haben, nicht die konzeptionell unterschiedlichen Werte, die sie in Bezug auf die angemessene Lösung intergenerationeller Konflikte haben (Burton 1993)(8). In den von Präsentisten verwendeten ökonomischen Modellen werden diese beiden Verhaltensmotive aus Gründen der Nachvollziehbarkeit und Einfachheit typischerweise auf einen einzigen Parameter reduziert.
VsVs: Autoren wie Howarth und Norgaard (1992)(9) argumentieren jedoch, dass dieser Modellierungsansatz theoretisch ungesund ist und dass neue Erkenntnisse durch den Einsatz von Modellen entstehen, die zwischen persönlicher Zeitpräferenz und intergenerationeller Ethik unterscheiden.
VsPräsentismus: (...) Kritiker werfen auch vor, dass der Präsentismus die ungerechte Behandlung der Nachwelt beinhaltet, weil er den Grundsatz leugnet, dass alle Menschen - auch Angehörige künftiger Generationen - einen vollen und gleichen moralischen Status haben sollten (Broome 2008)(10). In diesem Sinne argumentiert Singer (2002: 26)(11), dass die moralische Bedeutung von Auswirkungen wie "Leiden und Tod oder das Aussterben von Arten" im Laufe der Zeit nicht abnimmt. In ähnlicher Weise argumentiert Ramsey (1928)(12), dass die Bevorzugung der Interessen der heutigen Generation gegenüber zukünftigen Generationen eine "ethisch unvertretbare Praxis ist, die lediglich aus der Schwäche der Phantasie entsteht".
PräsentismusVsVsVs: Die Befürworter des Präsentismus widersprechen jedoch, dass die Stärke des intergenerationellen Altruismus ausreichend war, um sicherzustellen, dass sich die Lebensqualität in den Jahrhunderten nach der industriellen Revolution stetig verbessert hat. Wenn man davon ausgeht, dass das Wirtschaftswachstum
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für einige Zeit wachsen wird, folgt daraus, dass unsere Nachkommen in zukünftigen Generationen wahrscheinlich wesentlich reicher sein werden als wir es heute sind.
VsPräsentismus: (...) Die Klimaauswirkungen können schwerwiegend genug sein, um die Nachhaltigkeit und Produktivität der Wirtschaftstätigkeit zu gefährden (Hoel und Sterner 2007)(13). Diese Sichtweise wird durch die Ergebnisse von Woodward and Bishop (1997)(14), Weitzman (2009)(15) und Gerst et al. (2010)(16) gestützt.
Pro Präsentismus/Parfit: Noch radikaler stellen Autoren wie Parfit (1983a)(17) die Vorstellung in Frage, dass heutige Entscheidungsträger gegenüber zukünftigen Generationen Verpflichtungen haben, abgesehen davon, dass sie sicherstellen, dass zukünftige Menschen ein Leben führen, das nur minimal lebenswert ist. (...) nehmen wir an, dass ganz andere Gruppen von potenziellen Personen darin leben würden: (a) eine Zukunft mit niedrigem Einkommen, die durch eine verschlechterte natürliche Umwelt gekennzeichnet ist; und (b) eine Zukunft mit hohem Einkommen, die durch eine florierende Umwelt gekennzeichnet ist. Parfits Argument ist, dass die Individuen, die in einer geschädigten Welt leben, dankbar dafür wären, dass die gegenwärtigen Entscheidungen die notwendigen Bedingungen für ihre Entstehung geschaffen haben. Schritte zur Stabilisierung des Klimas würden (...) zu einer anderen Welt führen, in der sie nie geboren werden würden.
VsParfit: "Unsere Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen ergeben sich aus dem Gefühl einer Gemeinschaft, die sich über Generationen und in die Zukunft erstreckt ... Wenn man die Idee einer Gemeinschaft in einer Generation akzeptiert, einschließlich des Prinzips, dass dies bestimmte Verpflichtungen gegenüber anderen Mitgliedern mit sich bringt, dann sollte man die Idee einer transgenerierten Gemeinschaft akzeptieren, die sich in die Zukunft erstreckt und damit Verpflichtungen gegenüber zukünftigen Generationen anerkennt". (De-Shalit 1995: 14-15)(18)
VsParfit/VsPräsentismus: Alternativ stellt Gosseries (2008)(19) fest, dass Parfits Argument von einer Schlüsselfrage der menschlichen Demographie abstrahiert: Zu jedem Zeitpunkt überschneidet sich die aktuelle Generation der Erwachsenen mit ihren Kindern und Enkeln, deren Existenz und Identität vollständig festgelegt sind. Akzeptiert man die plausible Prämisse, dass jede Generation von Erwachsenen verbindliche Pflichten gegenüber ihren Nachkommen aus Fleisch und Blut hat, so wird eine "Kette von Verpflichtungen" zwischen den gegenwärtigen Entscheidungsträgern und den ungeborenen Mitgliedern entfernterer Generationen gebildet (Howarth 1992)(20). >Generationengerechtigkeit
, >Klimawandel/Utilitarismus.

1. Manne, A. S. 1995. The rate of time preference: Implications for the greenhouse debate. Energy Policy 23: 391–4.
2. Nordhaus, W. D. 1992. An optimal transition path for controlling greenhouse gases. Science 258: 1315–19.
3. Nordhaus, W. 2008. A Question of Balance: Weighting the Options on Global Warming Policies. New Haven: Yale University Press.
4. Anthoff, D. Tol, R. S. J. and Yohe, G. W. 2009b. Risk aversion, time preference, and the social cost of carbon. Environmental Research Letters 4: 1–7.
5. Arrow, K. J., Cline, W. R., Mäler, K. G., Munasinghe, R., Squitieri, R., and Stiglitz, J. E. 1996. Intertemporal equity, discounting, and economic efficiency. In J. P. Bruce, H. Lee, and E. F. Haites (eds.), Climate Change 1995: Economic and Social Dimensions of Climate Change. Cambridge: Cambridge University Press.
6. Goulder, L. H., and Stavins, R. N. 2002. An eye on the future. Nature 419: 673–4.
7. Nordhaus, W. D. 1992. An optimal transition path for controlling greenhouse gases. Science 258: 1315–19.
8. Burton, P. S. 1993. Intertemporal preferences and intergenerational equity considerations in optimal resource harvesting. Journal of Environmental Economics and Management 24: 119–32.
9. Howarth, R.B. and Norgaard, R. B. 1992. Environmental valuation under sustainable development. American Economic Review 80: 473–7.
10. Broome, J. 2008. The ethics of climate change. Scientific American 298: 97–102.
11. Singer, P. 2002. One World: The Ethics of Globalization. New Haven: Yale University Press.
12. Ramsey, F. 1928. A mathematical theory of saving. Economic Journal 38: 543–59.
13. Hoel, M., and Sterner, T. 2007. Discounting and relative prices. Climatic Change 84: 265–80.
14. Woodward, R. T., and Bishop, R. C. 1997. How to decide when experts disagree: Uncertainty‐based choice rules in environmental policy. Land Economics 73: 492–507.
15. Weitzman, M. L. 2009. On modeling and interpreting the economics of catastrophic climate change. Review of Economics and Statistics 91: 1–19.
16. Gerst, M., Howarth, R. B., and Borsuk, M. E. 2010. Accounting for the risk of extreme outcomes in an integrated assessment of climate change. Energy Policy 38: 4540–8.
17. Parfit, D. 1983a. Energy policy and the further future: The identity problem. In D. MacLean and P. G. Brown (eds.), Energy and the Future. Totowa, NJ: Rowman & Littlefield. Pp. 166–179.
18. De‐Shalit, A. 1995. Why Posterity Matters: Environmental Policies and Future Generations. London: Routledge.
19. Gosseries, A. 2008. On future generations' rights. Journal of Political Philosophy 16: 446–74.
20. Howarth, R. B. 1992. Intergenerational justice and the chain of obligation. Environmental Values 1: 133–40.

Howarth, Richard: “Intergenerational Justice”, In: John S. Dryzek, Richard B. Norgaard, David Schlosberg (eds.) (2011): The Oxford Handbook of Climate Change and Society. Oxford: Oxford University Press.

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Zeichenerklärung: Römische Ziffern geben die Quelle an, arabische Ziffern die Seitenzahl. Die entsprechenden Titel sind rechts unter Metadaten angegeben. ((s)…): Kommentar des Einsenders. Übersetzungen: Lexikon der Argumente
Der Hinweis [Begriff/Autor], [Autor1]Vs[Autor2] bzw. [Autor]Vs[Begriff] bzw. "Problem:"/"Lösung", "alt:"/"neu:" und "These:" ist eine Hinzufügung des Lexikons der Argumente.

Parf I
D. Parfit
Reasons and Persons Oxford 1986

Parf II
Derekt Parfit
On what matters Oxford 2011

Norgaard I
Richard Norgaard
John S. Dryzek
The Oxford Handbook of Climate Change and Society Oxford 2011

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